Ein Gespräch mit Kerstin Speer, einer Psychologin.
IMD: Dieses Gespräch sollte eigentlich mit einer anderen Frage beginnen. Doch vor einigen Tagen haben Sie erfahren, dass Sie möglicherweise ALS haben. Jetzt wissen Sie, dass dies nicht der Fall ist, aber Sie wissen nun, wie es sich anfühlt.
Kerstin Speer: – Wie ist es, zu hören und zu warten? Auf der Krankenhaustreppe ist ein Freund von mir blass geworden, hat mich umarmt und gesagt, das sei gar nicht möglich, er wollte es nicht glauben. Mir wurde klar, dass die meisten so denken: so etwas kann unseren Freunden, Verwandten nicht passieren. Und uns selbst sowieso. Die Lektion, die ich aus dieser Episode gelernt habe war, keine Angst zu haben, mich an Menschen zu wenden und zu sagen: Ich brauche dich.
ALS tut am Anfang nicht weh, es ist die Einsamkeit, oder?
Ein Mensch – obwohl er von vielen anderen Menschen umgeben ist – ist in gewissem Sinne immer einsam. Alles, was wir erfahren – Freude, Trauer, Schmerz, Zweifel – erfahren wir in unserem Inneren. Niemand kann es für uns erfahren. Ein anderer Mensch kann nur versuchen, an unseren Erlebnissen teilzuhaben. Wenn wir dies vergessen, die Existenz dieser Einsamkeit leugnen, kommen Erwartungen auf – dass andere wissen müssten, wie sie sich in solchen Situation zu verhalten haben.
Gibt es denn nicht die richtige Reaktion?
Nein. Auf intellektueller Ebene verstehen wir durchaus, dass jeder Mensch anders denkt und fühlt; doch emotional erwarten wir sehr, dass er auf eine bestimmte Weise handelt.
Ich kann mich erinnern, als ein kleiner Junge an Krebs gestorben ist und mich seine Familie besuchte. Die Mutter machte einen schwer kranken Eindruck. Sie hatte Depression und seit Wochen kaum gegessen. Der Vater hingegen – ruhig, ernst – hatte nach dem Tod angefangen, sich in Arbeit zu stürzen. Er hatte ein Grundstück gekauft, Baumaterialien für einen Hausbau gesammelt, er verhielt sich so, als ob nichts gewesen wäre. Die Ehe war kurz davor zu zerbrechen. Sie konnte ihm nicht verzeihen, dass er nicht so empfindet, wie sie.
Die meisten Menschen, die diese Geschichte hören, denken sicherlich: wie konnte er?
Als dieser Mann sich dazu entschloss, endlich über seine Gefühle zu sprechen, waren seine Worte eine große Überraschung für seine Frau. Er litt auf seine eigene Art und Weise. Die Falle besteht darin, dass sich Menschen gegenseitig verurteilen: wenn du es nicht so erlebst, wie ich es tue, hast du nicht genauso geliebt. Ein Mann begleitet seine Frau in jeder Minute ihres Aufenthaltes im Krankenhaus, ein anderer wäre nicht einmal in der Lage, das Gebäude zu betreten. Doch das muss nicht zwangsläufig heißen, dass der zweite weniger liebt. Keiner ist besser oder schlechter.
Was passiert in der Psyche von den distanzierteren Menschen im Angesicht eines Dramas einer nahestehenden Person?
Für einen Erkrankten ist die Nachricht über die Krankheit meist ein großer Schock. Der erste Abwehrmechanismus ist oft Verleugnung. Dieser Mechanismus greift oft auch bei der Familie, den Freunden und Bekannten. Sie nehmen die Nachricht wahr aber sie akzeptieren sie nicht. Es ist so schwer, über eigene Gedanken und Gefühle Kontrolle zu behalten. Die Information tut weh.
Ist es nicht so, dass die intellektuelle Ebene die emotionale nachzieht?
Selbstverständlich. Doch dann denken wir: ich weiß, er ist krank; und sofort kommen Gedanken auf, wie: was passiert, wenn er von uns geht? Menschen verbalisieren ihre Ängste häufig nicht, aber sie denken sie.
Eine meiner Freundinnen ist tatsächlich an ALS erkrankt. Ihre Familie verhielt sich so, als wären alle völlig gefühllos. Sie konnte recht bald nicht mehr laufen und ihre Tochter wollte ihr nicht einmal eine Tasse Tee bringen. Ihr Mann brachte sie zur Arbeit und sagte: ein Kollege wird dich nach Feierabend heimbringen. Sie taten so, als ob sie nicht gemerkt hätten, dass sie mittlerweile im Rollstuhl sitzt. Eines Tages lud ich sie zu einem Café ein und fragte: Was ist mit euch eigentlich los?
Und konnten sie ihre Gefühllosigkeit erklären? Sagten sie etwa: wenn wir uns ansehen lassen würden, wie sehr uns die Krankheit der Frau und der Mutter mitnimmt, wäre es für diese noch schwerer?
Absolut. Ihre 16-jährige Tochter fing an, zu weinen und sagte: Wenn ich ohr diesen Tee bringe, dann muss ich vor mir selbst eingestehen, dass Mama sterben kann. Dass sie behindert ist. Dass die Krankheit fortschreiten wird. Der Mann sagte: wenn ich sie von der Arbeit abholen soll, sehe ich in meinen Gedanken eine fröhliche Frau, die mir lachend entgegenläuft. Deswegen finde ich keine Kraft, sie abzuholen.
Wie Sie sehen, waren sie keine gefühllosen Menschen. Es gibt keine durch und durch bösen, eiskalten Menschen. Manche zeigen nur keine Gefühle, aber nicht, weil sie so geboren wurden. Dieser Mechanismus in der besagten Familie hat sich aktiviert, weil die Erkrankte die Familienangelegenheiten immer managte, sie war immer aktiv und bereit. Es gibt viele solche Familien.
Wie sollte man ein solches emotionales Missverständnis überstehen?
Eine Familie sollte sich am besten zusammensetzen und offen über ihre Ängste sprechen. Wie neu und schwierig die Situation ist. Zu gestehen, dass etwas schwierig ist, heißt nicht, dass es nicht zu schaffen ist – obwohl es häufig so scheint. Ich habe mich mit der Familie gesetzt, wir weinten alle und erzählen uns die Wahrheit. Jetzt helfen sie einander.
Die Einsamkeit resultiert aus unserer Kultur. Gäbe es denn nur mehr tiefgehende Gespräche in unseren vier Wänden. Leider, gehen wir oft auf Nummer sicher und bewahren Distanz: Was hast du, was fehlt dir? Keine Sorge, es wird schon wieder.
Wir trösten einander, was ist daran falsch?
Lass es uns schnell erledigen, dann ist das Leiden kleiner, stimmt’s? Und genau das ist die Falle. Die moderne Welt lässt uns die Minimierung eines Leidens anstreben. Kaum haben wir ein Wehwehchen, greifen wir zu einer Tablette. Wir wollen uns niemals unwohl fühlen. Dies hat Auswirkungen auf unser psychisches Leben.
Also wenn jemand erkrankt, greift die Familie zu einer Art „Selbsthilfetablette“, das heißt aber nicht, dass sie das Problem auf die leichte Schulter nehmen, sondern dass sie versuchen, den Schmerz zu minimieren.
So ist es. Eine Krankeit wie ALS ändert uns doch nicht. Sie kann höchstens unsere Einsamkeit in der Familie hervorheben.
Wie oft nehmen wir uns vor: heute spreche ich mit meinem Kind, Mann, einem Elternteil. Und dann sind wir müde, wir schieben es auf. Die Probleme werden größer, das Unausgesprochene richtet sein Unheil an und dann hat ein Familienmitglied urplötzlich nur noch ein Jahr zu leben. Vielleicht hat jeder von uns nur noch eine Woche, einen Monat, ein Jahr. Aber wir möchten nicht darüber nachdenken. Eine Diagnose – ALS – macht uns darüber schlagartig, unerwartet und gnadenlosen bewusst. Sie initiiert Ängste um uns selbst, offenbart die Zerbrechlichkeit des Lebens. Ein kranker Mensch benötigt ein offenes Gespräch. Es kommt die Zeit, in der man sich nichts mehr vormacht, nicht mehr vor der Wahrheit flieht; doch der Rest der Familie ist noch nicht bereit, der Wahrheit, der Krankheit, dem Tod ins Gesicht zu sehen. Was tun die Familien dann? Sie rennen hin und her, suchen neue Heilmittel, ergreifen Maßnahmen, und schieben Gespräche und Nähe immer weiter auf. Nicht weil sie gefühlskalt sind, sondern aus Angst und Verschlossenheit.
Vielen Dank für das Gespräch.